Selbstwahrnehmung vs. Fremdwahrnehmung
Der Mensch nimmt sich immer anders wahr, als er von anderen wahrgenommen wird. Die Diskrepanz ist neuropsychologisch unvermeidlich, aber überbrückbar.
Selbstbild und Fremdbild sind niemals identisch. Diese Tatsache ist ein systemimmantentes Phänomen, denn die neurobiologischen und neuropsychologischen Systeme, die an der Generierung der Selbstwahrnehmung beteiligt sind, sind weder strukturell noch inhaltlich völlig identisch mit den Systemen, die das Fremdbild generieren. Die Verschiedenheit der Ergebnisse birgt ein großes Konfliktpotenzial, denn den Wenigsten ist bewusst, dass Selbstbild und Fremdbild niemals identisch sein können. Dadurch entstehen schnell Missverständnisse, Vorwürfe, Unterstellungen, Unverständnis, Kränkung, Hilf- und Ratlosigkeit. Ist man sich jedoch über die Arbeitsweisen der verschiedenen Mechanismen im Klaren, fällt es leicht, vorwurfs- und vorurteilsfrei über Unstimmigkeiten zu diskutieren.
Jeder Mensch ist einzigartig
Man kann verschiedene Prozessebenen ausmachen, die, jede für sich und alle zusammen, dazu beitragen, dass das Selbstbild und das Fremdbild grundsätzlich niemals vollkommen deckungsgleich sein können. Von außen nach innen sind dies:
- Die Wahrnehmungsebene
Sinnesphysiologisch nehmen wir andere Menschen über andere Mechanismen wahr als uns selbst.
- Die neuronale Verrechnungsebene
Unterschiedliche Erfahrungen generieren unterschiedliche Erwartungen, und strukturell unterschiedliche Kognitionsareale produzieren unterschiedliche Denkmuster.
- Die psychische Ebene
Selbsteinschätzungen und Erinnerungen manipulieren wir unbewusst zu unseren Gunsten.
Bezüglich der Wahrnehmungen, der Erfahrungen und der Verrechnung dieser Informationen ist jeder Mensch einzigartig, denn es gibt keine zwei Menschen, bei denen auf allen drei Ebenen identische Abläufe stattfinden.
Die Wahrnehmungsebene
Es erscheint zunächst verblüffend, dass die Mechanismen, über die wir uns selbst wahrnehmen, andere sind als die Mechanismen, über die wir andere Menschen wahrnehmen. Wir sehen uns anders, fühlen uns anders, hören und riechen uns anders als andere Menschen uns sehen, fühlen, hören und riechen. Es ist daher also keineswegs verwunderlich, dass am Ende zwei unterschiedliche Eindrücke von ein und derselben Person entstehen – mein Eindruck von mir und Dein Eindruck von mir sind nicht identisch, ebenso wie Dein Eindruck von Dir und mein Eindruck von Dir nicht identisch sind.
Die neuronale Verrechnungsebene
Jeder Mensch sammelt im Laufe seines Lebens ganz individuelle Erfahrungen und besitzt daher ein ganz individuelles Gedächtnis. Auf der Grundlage dieser individuellen Gedächtnisinhalte entwickelt das Gehirn ständig Annahmen über die Welt. Ergänzend zu diesen größtenteils autonom und unbewusst ablaufenden Prozessen sind wir in der Lage, über bestimmte Dinge nachzudenken. Sowohl funktionell als auch strukturell unterscheidet man vier verschiedene, miteinander verknüpfte und interagierende Kognitionsbereiche. Sowohl die automatische Hypothesengenerierung als auch die Kognitionsprozesse produzieren bei verschiedenen Menschen nur selten identische Resultate. So führen also nicht nur die reinen Sinneswahrnehmungen, sondern auch die Verrechnung und die Verarbeitung der Informationen bei verschiedenen Menschen unvermeidlich zu unterschiedlichen Resultaten.
Die psychische Ebene
Ein für das Berufsleben wesentlicher Aspekt der Selbstwahrnehmung ist die korrekte Einschätzung von Fähigkeiten uns Leistungen. Der Begriff korrekt bedeutet in diesem Zusammenhang passend oder Übereinstimmend. Die Fähigkeiten und Leistungen einer Person sollten im Idealfall von dieser Person selbst ebenso eingeschätzt werden wie von anderen Personen – Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung sollten größtenteils übereinstimmen. Im Alltag und besonders in der Berufspraxis ist dies jedoch bei weitem nicht immer der Fall. Das liegt unter anderem daran, dass jeder gesunde Mensch dazu neigt, sich vor sich selbst in ein gutes Licht zu rücken. Diese soziopsychologischen Selbstschutzmechanismen garantieren, dass man mit sich selbst, dass das Gehirn mit sich selbst zufrieden sein kann.